Es war einmal ein kleines Kunstrad, das hielt sich für ein Stückchen besser als alle anderen. Was heißt ein Stückchen – meilenweit besser als alle anderen! Wenn die anderen Kunsträder sich nach dem Training eng zusammen kuschelten, um sich für die Nacht zu wärmen, dann ruckelte das kleine Kunstrad auf dem Boden an seinem Lenker und trippelte mit dem Sattel so weit es konnte von den anderen weg. Es stellten sich ihm alle Zahnkränze auf wenn es mit anhören musste, wie die anderen von ihren Fahrern schwärmten.
Kunstradfahrer waren die Schlimmsten! Das kleine Kunstrad hatte schon einige von ihnen trainiert; und niemand davon hatte seinen Ansprüchen im Mindesten genügt. So ein junger Lukas Kohl wäre wohl ganz in Ordnung gewesen oder auch ein David Schnabel, wobei der Gerüchten zufolge auch erst in späteren Jahren so richtig gut geworden war. Das kleine Kunstrad wollte Standsteiger rückwärts Drehungen fahren oder Maute Sprünge oder Handstände – aber alles, was seine junge Fahrerin konnte, war der Sattellenkerstand. Immer und immer wieder wollte sie den zeigen – ihren Eltern, ihren Freunden, ihren Verwandten. Und war dabei fürchterlich stolz. Das kleine Kunstrad langweilte sich zu Tode.
Deswegen war es anfangs gar nicht undankbar, als eine weltweite Pandemie den Trainingsbetrieb in seiner Halle lahm legte. Endlich keine blauen Flecke mehr auf seinen Pedalen und am Rahmen, die davon kamen, dass seine Fahrerin den Lenkerstand noch immer nicht beherrschte. Und keine komischen Blicke von den anderen Kunsträdern, die vielleicht noch glaubten, es läge an ihm, dass es diese pipileichte Übung nicht mehr beherrsche!
Nach einigen Wochen jedoch begann das kleine Kunstrad, sich ziemlich zu langweilen. Noch dazu war es wahnsinnig nervig, wie die anderen versuchten, an aktuelle Informationen zu kommen und an jedem Trainingstag stundenlang mit den Vorderrädern am Radlager lauschten, in der Hoffnung, dass doch noch jemand in die Halle kommen könnte.
Als dann eines Tages unverhofft der Weihnachtsmann in ihre Halle kam und sie alle fragte, ob sie ihm in diesem Jahr seinen fliegenden Schlitten ziehen könnten, da meldete sich das kleine Kunstrad sofort freiwillig. (Der Weihnachtsmann erzählte von etwas, das die Kunsträder nicht so richtig verstanden – von irgendeinem „nicht bestandenen Elchtest“ seiner Rentiere, der ihn den TÜV gekostet habe…) Und weil das kleine Kunstrad so genervt von den anderen war, bestand es darauf, dass es den Schlitten ganz allein ziehen würde.
Der Weihnachtsmann schien mit dieser Lösung ziemlich zufrieden. Das kleine Kunstrad konnte seinen Schlitten zwar nicht ganz so gut beschleunigen, wie die Rentiere. Doch es brauchte als Verpflegung nichts weiter, als ein bisschen Kettenöl. Die Rentiere dagegen mussten alle paar hundert Kilometer Pause machen und etwas trinken. Außerdem hatten sie immer eine unbändige Lust auf Grünzeug und der Weihnachtsmann musste gut aufpassen, dass sie nicht die Weihnachtsbäume der Menschen anknabberten, während er in die Kamine kletterte, um die Geschenke abzuliefern.
Das kleine Kunstrad hatte sich darauf gefreut, endlich mal frische Luft zu schnuppern und etwas von der Welt zu sehen, denn die meiste Zeit verbrachte es in stickigen Hallen oder in schlecht belüfteten Kofferräumen. An Heilig Abend jedoch war es bitterkalt. Das kleine Kunstrad hatte das Gefühl, sein Lenker würde vor Kälte bersten. Seine Reifen wurden in der eisigen Luft ganz schlapp, während es ausdauernd seine Pedale schwang und den Weihnachtsmann von einem Kamin zum nächsten flog.
„Schau mal“, sagte der Weihnachtsmann plötzlich zum kleinen Kunstrad, „das wird dir gefallen: Hier lebt die Familie deiner Kunstradfahrerin.“ „Aha“, machte das kleine Kunstrad und verdrehte hinter dem Rücken des Weihnachtsmanns die Dornen. Was interessierte das kleine Kunstrad die Fahrerin! Es war doch heilfroh, dass sie ihn nicht mehr drei Mal in der Woche mit ihrer Unbegabtheit traktierte!
„Ich bringe deiner Fahrerin ein neues paar Schläppchen – und einen Gürtel, damit sie den Kopfstand lernen kann“, erklärte der Weihnachtsmann und verschwand mit einem Zwinkern im Kamin.
Das kleine Kunstrad war ein kleines bisschen beeindruckt: Seine Fahrerin hatte sich zu Weihnachten Dinge gewünscht, die ihr beim Training helfen würden?! Während der Weihnachtsmann zurück auf seinen Schlitten kletterte und die restlichen Geschenke neu sortierte, lauschte das kleine Kunstrad in den Kamin. Es konnte hören, wie seine Kunstradfahrerin ihre Geschenke auspackte. Sie schrie laut auf vor Freude – doch plötzlich begann sie zu schluchzen. „Mama, wann darf ich endlich wieder in die Halle? Ich vermisse das Training und mein Kunstrad einfach so sehr!“
Das kleine Kunstrad spürte, wie seine Speichen vor Rührung zitterten und während sie weiterfuhren, dachte es immer wieder an seine Fahrerin zurück. Trotz der Kälte spürte es, wie sein Rahmen von innen glühte. Vor Freude? Oder vor Traurigkeit? Das kleine Kunstrad konnte es nicht genau sagen.
Ein paar Stunden später waren sie fertig mit dem Ausliefern der Geschenke und der Weihnachtsmann parkte den Schlitten vor der Halle, um das kleine Kunstrad aus seinem Geschirr zu befreien. Jetzt, wo sie alle Geschenke überbracht hatten, war der Schlitten leicht genug, um den Weihnachtsmann alleine zurück zum Nordpol zu fliegen.
„Liebes Kunstrad“, sagte der Weihnachtsmann, „als Dank für deine Hilfe heute Abend darfst du dir zu Weihnachten wünschen, was du möchtest!“
Das kleine Kunstrad überlegte. „Ich wünsche mir, dass alles so wird wie früher und das Coronavirus sofort verschwindet!“, rief es schließlich.
Der Weihnachtsmann lächelte traurig: „Ok, du kannst dir fast alles wünschen. Das Coronavirus wegzaubern kann leider nicht mal ich.“
Das kleine Kunstrad schaute den Weihnachtsmann enttäuscht an. Doch dann fiel ihm etwas anderes ein: „Ich wünsche mir für die anderen Kunsträder und mich eine neue Lackierung!“ Denn der Verein des kleinen Kunstrads musste immer sparen und konnte es sich nicht leisten, den Kunsträdern eine neue Farbe zu verleihen. „Das lässt sich einrichten“, strahlte der Weihnachtsmann und er schnippte mit den Fingern.
Das kleine Kunstrad erstrahlte jetzt in genau dem Dunkelrot, dass es sich immer gewünscht hatte. Und noch lange, nachdem der Weihnachtsmann wieder weggeflogen war, spiegelte es sich stolz in der Scheibe der Eingangstüre.
Schließlich schlich das kleine Kunstrad die Treppen zum Radlager hinunter. Die anderen Kunsträder schliefen tief und fest. Im silbrigen Licht des Mondes konnte es erkennen, dass die anderen Kunsträder furchtbar schick aussahen mit ihren neuen Lackierungen, die in allen Farben des Regenbogens glitzerten. Na die werden Augen machen wenn sie in der Früh aufwachen, dachte das kleine Kunstrad glücklich und kuschelte sich mitten unter sie.
Nach dieser langen Nacht war das kleine Kunstrad sehr erschöpft und bevor es einschlief, hatte es nur noch Zeit für einen einzigen Gedanken: Hoffentlich ist die Halle bald wieder eröffnet und ich darf mit meiner Fahrerin den Kopfstand üben!
Schreibe einen Kommentar