Einmal haben die Hallenradsportler ihren olympischen Sportkollegen etwas voraus. Für sie bricht jetzt keine Welt zusammen, angesichts dieser Verlegung der Sommerspiele von Tokio.
Das fast bizarre Szenario beeinträchtigt Kunstradsportler und Radballer nicht – die Annäherung an die Saison der Elite im Herbst aber gestaltet sich dennoch schwierig genug.
Der vierfache Weltmeister im Einer-Kunstradfahren, Lukas Kohl (Kirchehrenbach), bringt es auf den Punkt, in dem er Handstände auf der Terrasse mit dem Zusatz postet. „Wenn die Welt in solch herausfordernden Zeiten auf dem Kopf steht, muss man es ihr gleichtun, um nicht verrückt zu werden.“
Bundestrainer Dieter Maute lässt die Kunstradsportler aber nicht im Stich. Schnell erarbeitete er ein Heimtrainings-Programm als Rund-Mail. Adressiert an die Top-Athleten bis runter zum Sichtungskader der Neunjährigen.
Jeweils etwa anderthalb Stunden umfasst eine Einheit. Das funktioniert in Video-Chat-Gruppen. Man ist nicht alleine – und der Coach bekommt so einen Einblick.
Serafin Schefold und Max Hanselmann (Öhringen), die Weltbesten in der offenen Zweier-Klasse, erhielten auch „Post“ von Maute. „Damit versuchen wir aktuell zuhause – jeder für sich – uns mit Kraft, Ausdauer- und Handstandtraining fit zu halten. Optimal wäre es, wenn man es schafft, sich so körperlich auf Top-Niveau zu bringen und damit sogar fitter ist, als man es vorher war.“
Die beiden Bike-Koryphäen kennen das Trockentraining auch aus Zeiten von Verletzungen – und kamen schnell wieder zurück. Das ist auch die Überzeugung von Dieter Maute. „Man kann Einzelübungen oder das gesamte Programm in Gedanken fahren. Sich aus der Innenperspektive die Bewegungen vorstellen.“
Mit dem mental gestützten Techniktraining – dem ideomotorischen Training – lassen sich auch Reize an die Muskeln aussenden – ein bisschen wie bei der normalen Kür. Der Diplom-Sportlehrer, in seiner aktiven Zeit selbst fünfmal Weltmeister, hat dieses System selbst mehrfach in gesundheitlichen Auszeiten optimiert.
“Daraus ergeben sich Chancen, komplizierte Bewegungsabläufe ohne Radtraining zu erhalten, ja sogar eventuell zu optimieren – da die Steuerungsreize der Bewegung minimal fließen“, erläutert Maute. Alle Übungen, auch die kompliziertesten, lassen sich so erhalten oder sogar „wirklich perfektionieren.”
Denn Alternativen fehlen völlig. Maute kennt keinen Sportler, der in irgendeiner Halle oder einem Not-Quartier sein Arbeitsgerät nutzen kann. Maute betont: „Leider geht das auch nicht im Freien, auf einem Parkplatz zum Beispiel. Das Verletzungsrisiko ist zu groß, die Räder könnten Schaden nehmen. Also bringt es auf dem harten Teer gar nichts. Und jene Übungen, die dort möglich wären, bringen uns kaum weiter.“
Besonders prekär ist die Situation für den Nachwuchs. Die im Mai angesetzten U19-Europameisterschaften sind abgesagt und auf 2021 verschiben – hinter der auf einen noch unbestimmten Zeitpunkte verschobene Junioren- sowie der Schüler-DM stehen Fragezeichen. Qualifikationswettkämpfe wurden gerade im Radball und Radpolo reihenweise abgesagt.
Die beiden ersten Radball-Weltcups finden nicht statt. Und ob der zweite Weltcup für die Elite-Kunstradsportler Ende Juni in der Slowakei stattfinden kann, steht sowieso ebenso in den Sternen wie die Radball-EM.
Die „heiße“ Saison der Erwachsenen mit den WM-Qualifikationen beginnt im Spätsommer. Der Höhepunkt ist die Weltmeisterschaften Ende November in Stuttgart. Dann in einer womöglich wieder proppenvollen Porsche-Arena, obgleich man sich solche Szenen im Moment nur schwer vorstellen kann.
Die Hallenradsportler aber sind auf die wenigen Top-Events besonders angewiesen. „Allerdings wird es erst einmal eine Eingewöhnungsphase benötigen, bis das Radgefühl wieder zurück ist“, weiß Serafin Schefold.
Maute selbst, der normalerweise mehr in der Sporthalle von Albstadt „wohnt“ als in den eigenen vier Wänden, skizziert es so: „Die Decke fällt einem langsam auf den Kopf.“ (bdr-medienservice)
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